Denken oder Fühlen?

Die Ansichten darüber, wie der Weg zur Heilung aussieht, sind sehr unterschiedlich, gerade im Bereich psychischer Erkrankungen.

Manche sehen die Ursache für viele Probleme und Störungen darin, dass die Menschen zu verkopft seien, betrachten das übermäßige Denken als Ursache allen Übels. Aus dieser Meinung sind viele Therapierichtungen entstanden, die das intensive Fühlen an erste Stelle setzen, wie zum Beispiel die körperorientierten Verfahren der 80er Jahre wie Bonding-Psychotherapie oder Rebirthing. Die Idee ist, wenn Gefühle wieder intensiv gefühlt und ausgedrückt werden können, dass dann Depressionen, Angststörungen und Co verschwinden.

Andere sehen die Ursache der Leiden im genauen Gegenteil: Man dürfe nicht den Gefühlen das Feld überlassen, sich von Emotionen lenken lassen, sondern es braucht den kühlen Kopf, um zu gesunden. Hier wird die Kraft des Denkens, das ausufernde Gefühle lenken soll, an erste Stelle gesetzt. Zu Therapierichtungen, die diesen Ansatz wählen, gehören u.a. die Psychoanalyse, die kognitive Verhaltenstherapie oder oft auch die klassische Gesprächstherapie. Natürlich muss man dabei berücksichtigen, dass es sehr verschiedene Arten des Denkens gibt – das eher krankheitsfördernde Gedankenkarussel, das immer dieselben, meist destruktiven Gedanken im Kreis fahren lässt, oder tatsächlich ein klarer Gedanke, der plötzlich neue, heilungsermöglichende Perspektiven öffnet.

Die Praxis zeigt, dass weder das Primat des Fühlens noch das Primat des Denkens der Weisheit letzter Schluss ist.

Therapien, die auf intensiven Ausdruck von Emotionen setzen, wie atemzentrierte Therapieansätze, stoßen oft auf dasselbe Problem. Wenn Menschen jahrelang intensiv Gefühle unterdrückt haben, mag diese Form von Katharsis für einige Zeit befreiend sein. Wenn jedoch Menschen schwer traumatisiert sind, kann ein Gefühlstsunami aus traumatischen Gefühlen und Flashbacks entstehen, der eher retraumatisierend als heilend wirkt. Es ist nicht sinnvoll, wenn ein Mensch der jahrelang vergewaltigt wurde, in solchen Therapieformen wieder und wieder dieselben schrecklichen Gefühle durchlebt, die unmittelbar dem Trauma angehören.

Therapieansätze, die auf das mentale Durchdringen der Probleme setzen, sind hingegen oft mit dem Problem konfrontiert, dass scheinbar alles vom Klienten verstanden wurde, dass sich aber in seinem Leben gar nichts ändert. Hier bleiben Erkenntnisse oft im Kopf hängen, ohne Mehrwert für das alltägliche Leben.

Hinzu kommt, dass therapieerfahrene Klienten irgendwann ein Narrativ parat haben, das sie für ihr Leben halten und jedem neuen Therapeuten servieren, ohne weitere innere Beteiligung, was in eine Sackgasse führen muss. Gerade in den kognitiven Therapieformen wird der Körper oft gar nicht eingebunden, anders als in den meisten emotionsfokussierten Therapieansätzen, der aber auf dem Weg zur Heilung eine wichtige Rolle spielt, da er u.a. Erinnerungen speichert.

Daher kann es aus therapeutischer Sicht nicht sinnvoll sein, entweder das Denken oder das Fühlen zu verteufeln und als Ursache der ganzen Misere zu sehen.

Weder zu viel fühlen noch zu wenig fühlen ist gesund, ebenso ist es weder gesund, alles kognitiv lösen zu wollen noch aufzuhören zu denken. Es braucht einen integrativen Ansatz, der den Körper miteinbezieht, und der nach einer Balance zwischen Denken und Fühlen sucht, der den Mensch als physisches, seelisches und geistiges Wesen sehen kann.